Tages-AnzeigerThomas Meissner12.01.2011

Fluch und Segen moderner Diagnostik

Je genauer die Ärzte hinschauen, desto mehr finden sie. Doch viele Befunde erweisen sich als irrelevant,und die Nachfolgebehandlungen sind dann sinnlos oder sogar gefährlich.

31-jährige Testperson nimmt freiwillig an einer wissenschaftlichen Studie teil, in der es um Persönlichkeitsstörungen geht. Unter anderem wird auch eine Magnetresonanztomografie (MRT) des Kopfs angefertigt. Überraschenderweise findet man einen bösartigen Tumor. Er kann gerade noch rechtzeitig entfernt werden, die Frau ist auch drei Jahre später noch beschwerdefrei.

Eine 56-Jährige lässt eine Aufnahme mit einem Computertomografen (CT) machen, weil sich die Ärzte ihre Speiseröhre und den Magen genauer ansehen wollen. Doch dann erkennen sie auf den Bildern seltsame Knoten im Bauchraum. Sind es Metastasen einer bislang unerkannten Krebserkrankung? Die Frau unterzieht sich in Narkose einer Bauchspiegelung mit Gewebsentnahme aus den verdächtigen Herden. Dabei kommt heraus: falscher Alarm, es sind nur etwas vergrösserte Lymphknoten. Die eine Frau hatte Glück, die andere eine unnötige Operation. Beide Beispiele stammen aus einer Analyse von Studien zur diagnostischen Bildgebung an der Mayo Clinic in Rochester, Minnesota, mit insgesamt mehr als 1400 Teilnehmern. Bei 40 Prozent von ihnen ent-deckten Ärzte unerwartete Befunde. Fast immer waren diese Zufallsbefunde irrelevant für die Gesundheit und das weitere Leben. Ein Problem, das überall, wo moderne Medizin betrieben wird, an-zutreffen ist.

Denn ob ein Befund harmlos ist oder nicht, wissen die Mediziner oft erst einige Untersuchungen später. Untersuchungen, die nicht nur Geld kosten, sondern bei denen womöglich gewisse Risiken entstehen – zum Beispiel wenn Ärzte Endoskope in den Körper einführen, wenn sie mit Nadeln Gewebsproben entnehmen oder gar Operationen unter Narkose durchführen. «Wer gesund ist, der ist nur noch nicht ausreichend untersucht worden», lautet ein geflügeltes Wort unter Ärzten. Das Bonmot bringt jedoch ein inzwischen all-gegenwärtiges Dilemma auf den Punkt: Was anfangen mit unerwarteten Informationen? «Primum nihil nocere» – «Zuallererst nicht schaden», lautet ein Prinzip von der hippokratischen Tradition verpflichteten Ärzten. Womit aber schadet man mehr? Mit potenziell nutzlosen Untersuchungen, die selbst Komplikationen auslösen können? Oder damit, dass eine womöglich gefährliche Erkrankung übersehen wird? Selbst bei gezielter Diagnostik und bei konkreten Beschwerden eines Menschen werden manchmal Dinge sichtbar, die sich womöglich erst nach Ta-gen oder Wochen als harmlos herausstellen.

Problematische Check-ups

In der erwähnten US-Analyse zog nur 1 Prozent der mehr als 500 Patienten mit unerwarteten Befunden einen klaren medizinischen Nutzen daraus. Es waren genau sechs Patienten. Drei Pobanden erlitten wegen der Diagnostik eindeutig einen Schaden, darunter eine Frau, der wegen – wie sich später herausstellte – harmloser Befunde unnötigerweise beide Eierstöcke und die Gebärmutter entfernt worden waren. Bei vielen anderen blieb die Schaden-Nutzen- Bilanz unklar.

Besonders kritisch werde die Sache im Zusammenhang mit Check-up-Untersuchungen und Screenings, sagt Gerhard Rogler vom Universitätsspital in Zürich. «Check-ups verursachen am häufigsten unklare Befunde, weil man nicht mit einer konkreten Fragestellung untersucht, sondern bei einem Gesunden einfach nur mal schaut», so der Gastroenterologe und Medizinethiker. «Das muss schon vom Ansatz her zu Befunden führen, die unklar sind und zu keinem Krankheitsbild passen.» Zumal keines da ist. Da finden sich kleine Zysten auf dem Ultraschallbild der Schilddrüse, oder man sieht vergrösserte Nebennieren auf CT-Bildern des Bauchraums – beides überwiegend ohne Relevanz für die Gesundheit. Ein Beispiel für den fraglichen Nutzen von Screenings sind die in der Schweiz wie in vielen anderen europäischen Ländern geforderten Brustkrebs-Reihenuntersuchungen mithilfe der Mammografie. Bei diesem Brustkrebs-Screening seien neun von zehn verdächtigen Herden harmlos, sagt Rogler. «Das zieht also bei neun von zehn mammografisch untersuchten Frauen Feinnadelpunktionen nach sich, die unnötig und potenziell komplikationsträchtig sind.»

Eine kürzlich veröffentlichte norwegische Erhe-bung bei 40 000 Frauen mit Brustkrebs lässt den Schluss zu, dass das Mammografie-Screening kaum Anteil an den gesunkenen Sterberaten unter den betroffenen Frauen hat. Das meiste haben neue Therapieoptionen bewirkt.

Gezielt Risikogruppen angehen

Zugleich macht das Screening jedoch viele Frauen unnötigerweise zu Patientinnen, weil sehr oft falscher Alarm ausgelöst wird, unnötige Operationen oder gar Strahlen- und Chemotherapien stattfinden. Ein Screening mit nachgewiesenem Nutzen ist hingegen die Hautkrebsvorsorge. Auch ein Brustkrebs-Screening hält Rogler für sinnvoll, wenn man es gezielt bei Frauen mit erhöhtem Risiko vornimmt, zum Beispiel wenn Brustkrebs in der Familie gehäuft vorkommt. Eine günstige Nutzen-Risiko-Bilanz erhält man demnach, wenn nicht flächendeckend, sondern gezielt in Risikogruppen nach bestimmten Krankheiten gesucht wird. Mit den immer besseren diagnostischen Möglichkeiten werden auch die Befunde immer detaillierter. Neue Geräte ermöglichen dreidimensionale Einblicke in sämtliche Nischen des Organismus. Wer es sich leisten kann, lässt seinen Körper komplett durchleuchten, Leberenzymsysteme auf mögliche Verstoffwechselungsprobleme von Medikamenten untersuchen oder gleich sein ganzes Genom sequenzieren.

Geringe Aussagekraft von Tests

Doch an sich sinnvolle Technologien können – vor allem durch eine kommerzielle Vermarktung – diskreditiert werden, warnt Rogler und nennt ein Beispiel aus seinem Fachgebiet. Private Institute bieten einen Gentest für Morbus Crohn an, einer nicht heilbaren chronischen Entzündung des Darms. Treten bestimmte Genveränderungen auf, erkrankt der Träger mit einer 40-prozentigen Wahrscheinlichkeit an Morbus Crohn. Das hört sich bedrohlich an. Allerdings kommen diese Veränderungen auch bei 10 Prozent aller Gesunden vor. Rogler rechnet vor: «Von 10 000 Menschen haben 20 Morbus Crohn. Weniger als die Hälfte von ihnen haben diese Veränderungen. Dagegen stehen 1200 von 10 000 Gesunden, die ebenfalls die Genveränderung aufweisen, aber nie erkranken werden. Das Verhältnis von Erkrankten zu Nichterkrankten mit dieser Genveränderung beträgt also etwa 10 zu 1200. Das macht die Aussagekraft eines solchen Gentests mehr als fraglich.»

Wie viel Präventivmedizin und ungezielte Diagnostik ist also sinnvoll? Dies ist vor allem eine Frage, die sich Ärzte stellen müssen.