TagesAnzeiger 28.1.2012

Zum Thema Esskultur: Käseproduktion

Warum ein Gruyère wie ein Gruyère schmeckt

Bei der Entwicklung von Käse spielt nicht die Milch die Hauptrolle, sondern das Handwerk

Von Paul Imhof

Der Rohstoff: Milch. Sie setzt sich immer gleich zusammen, abgesehen von Kleinigkeiten, die sich aus dem Futter, dem Klima, der Jahreszeit, dem Tier und der Liebe seines Bauern ergeben. Das Resultat freilich unterscheidet sich mehr als bloss in Nuancen: Jeder Käsetyp schmeckt anders, und sogar innerhalb einer Sorte gibt es Unterschiede. Warum also schmeckt ein Gruyère wie ein Gruyère, ein Emmentaler wie ein Emmentaler, ein Sbrinz wie ein Sbrinz?

Der Geschmack entsteht durch die Reifung, erklärt Oskar Flüeler, Lebensmittelingenieur ETH, oder anders gesagt: Die Milch bringt nicht das Entscheidende, sondern die Art und Weise, wie man Milch in Käse umwandelt, also die Fabrikationstechnologie. Flüeler kennt beide Seiten des Metiers, die akademische wie die handwerkliche. Aufgewachsen in einer Käserfamilie in Alpnach, war er nach der Ausbildung zehn Jahre lang Leiter des Versuchswesens an der Forschungsanstalt für Milch, bevor er dann in der Familienkäserei selber Sbrinz produzierte. Aus einem Kessi Milch kann ich gleichzeitig Gruyère, Emmentaler und Sbrinz machen», sagt er, und dazu noch einen Bergkäse. Sie sehen, die Milch allein bringt s nicht. Was dann? Die Behandlung und die Reifung.

Wichtige Rolle der Bakterien

Im Kessi spielen Temperaturverlauf und die Grösse des Bruchs (zerschnittener Käseteig) eine Rolle. Flüeler: Wärmen, schneiden, rühren, wärmen. Es geht weiter mit dem Volumen, der Form, in die der frische Käse gepresst wird, mit der Salzkonzentration des Salzbades, in das der Laib getaucht wird, der Dauer im Bad (beim Gruyère 24 Stunden), dann weiter mit der Lagerung und der Affinage. Oskar Flüeler: Wärme, Kälte, Feuchtigkeit, Pflege. Die entscheidende Rolle spielen dabei die Bakterienkulturen, die der Milch beigegeben werden und später dann, besonders im Falle des Gruyère, auch bei der Pflege. Gruyère wird in einem Keller mit hoher Luftfeuchtigkeit gelagert Um Fäulnis zu unterbinden, muss man den Käse regelmässig mit etwas Salz bestreuen und waschen (schmieren). Das Waschwasser wird mit speziellen Bakterien angereichert. Diese Bakterien siedeln sich auf der Oberfläche an und entnehmen aus der Rinde Nahrung: Sie spalten dabei Proteine und erhalten dadurch ihre Energie. Die Bruchstücke der Proteinketten, die auf der Rinde zurückbleiben, haben kräftige Aromen. Sie dringen in den Käse ein und geben ihm den charakteristischen Geschmack.

Salz und Temperatur beeinflussen die Bakterien. Je kälter der Keller ist, desto langsamer reift der Käse. Gruyère wird feucht gelagert in einem Keller mit gut 90 Prozent Luftfeuchtigkeit, Emmentaler wird trocken gelagert bei etwa 70 Prozent Luftfeuchtigkeit. Die Löcher im Emmentaler entstehen durch Gase bei der Auftrennung der Milchsäure, sind also das Resultat von Bakterienfürzen. Beim Gruyère lassen die Bakterien ihren Wind ausserhalb des Käselaibes ab - der Keller riecht nach Ammoniak.

Gruyère kann man ab fünf Monaten Lagerung essen. Wann der Käse am besten gefällt, ist Geschmackssache. Richtig reif wird er ab gut zehn Monaten. Eine Besonderheit ist der Gruyère alpage: Er wird im Sommer auf den Alpen produziert. Bevor die Talkäsereien entstanden, war dieser Käse die Regel, heute ist er die Ausnahme. Und Ausnahme der Ausnahme, die wahre Exklusivität, ist Käse, der über Holzfeuer erwärmt wird und eine kleine, aber spürbare Rauchnote erhält.