Süddeutsche 2018-02

Schmerzmittel gegen Liebeskummer

Körperliche und seelische Pein verarbeitet das Gehirn auf ähnliche Weise. Deshalb tut Einsamkeit weh, und Paracetamol kann gegen Kränkungen helfen. Machen die Medikamente auch empfindungslos?

VON WERNER BARTENS

Der Partner hat jahrelang Affären gehabt, und nun fliegt der fortgesetzte Betrug auf? Darauf erst mal eine Paracetamol, dann ist es vielleicht nicht ganz so schlimm und tut weniger weh. Im Büro starten die Kollegen die nächste Mobbing-Offensive, und eine Intrigantin setzt allerlei böse Gerüchte in die Welt? Wirklich nicht schön, lässt sich aber mit ein paar Ibuprofen womöglich besser ertragen.

Schmerzmittel sollen als Therapie nicht nur gegen körperliche, sondern auch gegen seelische Schmerzen funktionieren? Paracetamol, Ibuprofen und Co. gegen Liebeskummer, Einsamkeit und Gemeinheiten vom Chef? Klingt zunächst ungewöhnlich, doch immer mehr Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die Medikamentenklassiker zur Linderung physischer Pein auch das psychische Leid verringern. Psychologen und Hirnforscher der University of California in Santa Barbara zeigen im Fachmagazin Policy Insights from the Behavioral and Brain Sciences, wie die populären Mittel auch Gedanken und Emotionen beeinflussen – und was daraus für den Umgang mit den frei verkäuflichen Präparaten folgen könnte.

Die Wissenschaftler um den Sozialpsychologen Kyle Ratner haben eine Fülle von Befunden zusammengetragen. Zwar blieben noch etliche Fragen offen, weil diese Art von Forschung vergleichsweise jung sei, aber die Studien „hätten das Potenzial, unser Verständnis davon zu ändern, wie beliebte Schmerzmittel Millionen Menschen beeinflussen, die sie schlucken“, so die Autoren. Politiker, aber auch Ärzteverbände müssten womöglich die freie Verfügbarkeit der Arzneimittel einschränken, wenn die Substanzen tatsächlich so starken Einfluss auf die Gefühlsverarbeitung und andere kognitive Prozesse haben.

Im Jahr 2003 fanden Hirnforscher erste Hinweise, dass körperlicher Schmerz und seelische Schmerzen etwa durch Abweisung und Kränkung in denselben Regionen des Gehirns verarbeitet werden. „Soziale und physische Schmerzen überlappen sich“, sagt Naomi Eisenberger von der University of California in Los Angeles. „Wer ausgegrenzt und einsam ist, reagiert oft schmerzempfindlicher.“ Seitdem gibt es zahlreiche Erkenntnisse darüber, wie das seelische Befinden die Wahrnehmung physischer Schmerzreize moduliert.

Dass der Schmerz, wenn einen der beste Freund verrät, mit der Metapher „in den Rücken fallen“ umschrieben wird, sei kein sprachlicher Zufall, sondern belege die Nähe der Nervenverschaltungen für physische wie psychische Torturen im Gehirn, sagt Ratner. Die neuronale Nachbarschaft im limbischen System bringe zudem weitere Wechselwirkungen zwischen Körper und Psyche mit sich – in beide Richtungen.

Von 2010 an erschienen erste Studien, in denen Probanden regelmäßig Schmerzmittel wie Paracetamol gegeben wurden und sie sich daraufhin weniger verletzt und erschüttert von den Kränkungen des Alltags zeigten. Weitere Analysen ergaben, dass die Medikamentenwirkung wiederum hauptsächlich die Inselregion, den Mandelkern und andere Hirnareale rund um das limbische System betraf, in denen emotionale Belastungen bevorzugt verarbeitet werden. Dort dämpften Ibuprofen, Paracetamol und Co. die neuronale Aktivität am stärksten.

Doch nicht nur die Selbstwahrnehmung bei sozialer Zurückweisung und anderem Kummer wurde mit Schmerzkillern unterdrückt, auch die Gefühle für andere fallen dann offenbar dürftiger aus. So führte die Einnahme von Paracetamol dazu, dass Probanden weniger mitfühlend reagierten, wenn andere Versuchsteilnehmer körperlichen Schmerzen ausgesetzt waren oder von einer Gruppe ausgeschlossen wurden. „Unter Analgetika reagieren Menschen weniger empfindlich auf das Leid anderer und fühlen sich weniger davon angesprochen“, sagt Kyle Ratner. „Das scheint spezifisch auf die Schmerzmedikamente zurückzuführen zu sein, denn ansonsten war ihre Stimmung nicht verändert.“

Frei verkäufliche Schmerzmittel gelten als harmlos, auch wenn in jüngster Zeit immer wieder Berichte über schwere Nebenwirkungen an Herz, Leber und Magen bekannt wurden. Womöglich sind auch die Folgen für die Psyche weitreichender als vermutet, wenn sie weiterhin millionenfach geschluckt werden. Schließlich gilt körperlicher wie seelischer Schmerz als Alarmsignal. Er zeigt an, dass die Organfunktionen des Menschen oder seine sozialen Beziehungen bedroht sind. Wird der Schmerz medikamentös unterdrückt, fehlen entsprechende Warnhinweise.

Dies kann sogar so weit führen, dass die Kräfte zur Selbstbehauptung geschwächt werden. So zeigte eine Studie kürzlich, dass Paracetamol dazu beitrug, dass Menschen sich weniger mit ihrer eigenen Sterblichkeit beschäftigten und daher auch weniger um soziale Kontakte oder Zukunftspläne kümmerten. Ihnen wurde zunehmend alles egal. Betäuben Schmerzmittel die Seele etwa so sehr, dass die Behandlung von chronischen Rückenschmerzen oder Kopfweh als Nebenwirkung empfindungslose Psychowracks zurücklässt?

Dieses provokante Fazit wäre wohl übertrieben, das Forschungsfeld sei überdies noch jung, betonen die Autoren. „Dennoch sind die vielfältigen Befunde alarmierend“, sagt Kyle Ratner. „Wer Schmerzmittel nimmt, will körperliche Beschwerden loswerden und rechnet nicht mit umfassenden psychischen Auswirkungen.“

Politiker und Ärzteverbände sollten deshalb abwägen, ob zumindest der oft unbedachte Einsatz von Schmerzmitteln bei Schwangeren und Kindern künftig besser kontrolliert werden müsste. „Welche Langzeitfolgen hat es beispielsweise, wenn die Gefühlsverarbeitung während der frühen Hirnentwicklung immer wieder gedämpft wird?“, fragen die Psychologen aus Santa Barbara. Oder begünstigen Analgetika wie Paracetamol gar ADHS, weil sie eben auch in die Impulskontrolle eingreifen können, wie vorläufige Studien nahelegen?

Natürlich könnte sich der flächendeckende Gebrauch von Schmerzmitteln auch positiv auswirken. Paracetamol nach dem Zoff mit dem Partner, Ibuprofen nach der Standpauke vom Vorgesetzten – und die Welt sieht schon wieder erträglicher aus. „Diese Medikamente finden sich in jeder Arztpraxis und Klinik, sie gehören rund um die Welt in jedem Alter und jeder Klasse zum modernen Leben“, sagt Ratner. „Wir sollten mehr darüber wissen, um die Gefahren, aber auch den möglichen sozialen Nutzen besser zu erkennen.“